Skulptur Projekte Münster: Mit nassen Füßen auf zu neuen Ufern

Fünf überlebensgroße Figuren irritieren. Denn sie lassen sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen.
Münster. Die Kunst ist einer der Freiräume, die es noch gestatten, dem Mirakulösen zu begegnen. In Münster trifft man unter dem Schlossplatz auf das Wundersame. Von Teelichtern genährte Kronleuchter illuminieren via LED-Technik einen stillgelegten unterirdischen Durchgang. Man begegnet dem Wunder am Hafen, wo Menschen wie Jesus die Wasseroberfläche queren, ohne zu versinken, oder in einer alten Eisporthalle, deren ausgeweidetes Inneres Bakterien, Pflanzen und Tieren überlassen wurde. Dies sind nur drei von insgesamt 35 Beiträgen, die sich im Rahmen der „Skulptur Projekte Münster 2017“ über das ganze Stadtgebiet verteilen. Die Rede ist – der Reihe nach – von Aram Bartholls thermoelektrischer Installation „3 V“, von Ayşe Erkmens Installation „On Water“ und Pierre Huyghes posthumaner Versuchsanordnung „After ALife Ahead“, die sich ohne das Zutun des Menschen verändert.
Die Münsteraner sind es gewohnt, dass zum Auftakt der „Skulptur Projekte“ Hundertschaften von Journalisten die Stadt durchkämmen, die meisten auf dem Fahrrad. Auf einer dieser Touren ist auch der Unternehmer Michael Andreae-Jäckering dabei, Förderer und Erbauer des spektakulären Unterwasserstegs. Mit im Wind flatterndem Staubmantel inspiziert er, was andere Künstler an abenteuerlichen oder abseitigen Orten hinterlassen haben. So stakst er mit durch die feuchten Wiesen am südwestlichen Ende des Aasees. Mitten hinein hat Ei Arakawa große LED-Tafeln gepflanzt. Wenn es dämmert, treten auf ihnen historische Gemälde u.a. von Gustave Courbet oder Joan Mitchell in Erscheinung, begleitet von gesprochenen oder gesungenen Texten anderer Künstler.

Einmal auf Wasser wandeln, ohne unterzugehen.
Ein Zwischenstopp gilt Thomas Schüttes „Nuclear Temple“ auf dem Gelände des ehemaligen Zoos. Unter Bäumen erhebt sich diese fast klassische Stahlskulptur über einem nackten, von Mäuerchen eingefassten Stück Erde. Ihre Anmutung ist anders als der Titel weniger bedrohlich. Sie schwankt zwischen Modell, Skulptur und Architektur. Schütte selbst macht auf die „relativ ähnlichen“, größtenteils nicht mehr existenten historischen Zoogebäude auf dem Gelände aufmerksam. So erhält diese Skulptur, die vor zehn Jahren in eigenem Auftrag entstand, im Nachhinein nicht nur ihre ortsspezifische Relevanz für Münster. Sie erzählt auch vom Gang der Zivilisation.
Luftlinie 100 Meter entfernt hat Hito Steyerl ihre mit bitterer Ironie betitelte Videoinstallation „HellYeahWeFuckDie“ in das Foyer der Westdeutschen Landesbausparkasse (LBS) platziert. Hier wirkte einst Ludwig Poullain, Lenker der inzwischen nicht mehr existenten WestLB, deren Neubau – nebenbei bemerkt – auch für die Verdrängung des alten Zoos sorgte. Mit animierten Robotern, die unermüdlich Attacken zu parieren haben, mutet dieser Film auf den ersten Blick unterhaltsam an. Doch wer länger verweilt und auch das dem Krieg gegen die Kurden gewidmete Video im hinteren Raum auf sich wirken lässt, ahnt, dass hier, am finanzmarktgeschwängerten Ort, nichts weniger verhandelt wird als die gefährdete Kreatur.
Am Aasee passiert die Gruppe die beiden riesigen, dicht aneinandergerückten Blöcke aus Eibenbuschwerk, die Rosemarie Trockel im Rahmen der „Skulptur Projekte“ 2007 an das Seeufer pflanzen ließ. Wie Erkmens Unterwassersteg entstand auch diese Arbeit, ein lebender Organismus aus Grün mit betretbarer, schmaler Sichtschneise, mit Unterstützung von Jäckering. Und nun kümmert er sich um sie. Noch vor wenigen Wochen traf er sich mit der Künstlerin, weil die Skulptur mal wieder einen Façon-Schnitt benötigte.

Radelnder Unternehmer, Sammler, Mäzen
Später geht es Richtung Hafen, um zu schauen, wie der wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche verlaufende Steg bei der Bevölkerung ankommt. Das Kunstwerk ist ein Hit für alle Generationen. Junge Ballett-Elevinnen vollführen kichernd tänzerische Figuren, halbwüchsige Jungen befragen die Rettungsschwimmer, die sich allzeit bereithalten zum Sprung ins kühle Nass. Vorsichtig und doch voller Vertrauen waten die Älteren ans gegenüberliegende Ufer.
Für den Bau des Stegs fand die Firma Jäckering Mühlen- und Nährmittelwerke GmbH aus Hamm eine erstaunliche Lösung aus acht gebrauchten Standard-Containern. Zuoberst liegt ein breiter Gitterrost, über den man auch mit nackten Füßen ohne Verletzungsgefahr laufen kann.
Bedrohung im Hinterkopf
Erkmens Hafen-Installation ist zweifellos ein Kunstwerk, das vor allem der Seele guttut, auch wenn man zugleich den steigenden Meeresspiegel im Hinterkopf hat. Signale der Entspannung sendet auch die Brunnenskulptur von Nicole Eisenman mit ihren herumlümmelnden Gips- und Bronzefiguren. Ansonsten ist nicht zu übersehen, dass viele Künstler deutlich auf die Bedrohung durch zunehmende politische Aggressionsherde, Terrorakte und den Klimawandel reagieren oder sie zumindest mitdenken. Das gilt vielleicht auch für den Lkw mit der schwarzen Holzkiste, den Cosima von Bonin und Tom Burr vor dem Eingang des Landesmuseums abstellten. Anis Amris Terrorfahrzeug drängt sich da auf.
7,7 Millionen Euro beträgt das Budget der „Skulptur Projekte“, die in diesem Jahr zum fünften Mal stattfindet und erstmals Marl als Partnerstadt und Standort eines angesehenen Skulpturenmuseums mit einbindet. Und die Schau erfährt – ganz anders als 1977 im Gründungsjahr – breiteste Zustimmung, was sich auch an der enormen Zahl von 42 Förderern ablesen lässt. Über 500.000 Besucher werden erwartet. Und niemand zahlt Eintritt, weil sich das für eine Ausstellung im öffentlichen Raum so gehört.
Allein 1,1 Millionen Euro kommen von den Hauptförderern, der Sparkassenfinanzgruppe und ihren Stiftungen sowie der dazugehörigen Provinzial Versicherung. Drei Millionen Euro steuern die Träger hinzu, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe und die Stadt Münster, eine Million kommt von der Kulturstiftung des Bundes, der Rest von Künstlern und weiteren Sponsoren. Unter anderem mit dabei sind die Innogy Stiftung, die Telekom und Schmitz Cargobull. Dass so etwas gelingt in der heutigen Zeit, in der Kultur vielerorts kaputtgespart wird, ist auch ein Verdienst von Kasper König, dem künstlerischen Leiter der „Skulptur Projekte“ seit drei Jahrzehnten. Energisch, humorvoll und frech – wie einst der Narr am Hofe – überzeugte er Förderer und bekam es fertig, dass selbst Künstler die Kosten für ihre Arbeiten übernahmen – wenn er davon ausgehen konnte, dass sie dazu in der Lage waren. König weiß und zitiert den niederländischen Konstruktivisten Theo van Doesburg: „Die Kunst kann die Zahnbürste nicht ersetzen.“ Doch es gilt auch umgekehrt: Eine Zahnbürste kann die Kunst nicht ersetzen.
Skulptur Projekte Münster 2017 (kuratiert von K. König, B. Peters, M. Wagner): bis 1.10.2017, Mo. bis So. 10 bis 20 Uhr, Fr. bis 22 Uhr. Katalog (15 Euro, 18 Euro im Handel) und Plan gibt es am LWL Landesmuseum; Fahrrad-Verleih hinter dem Altbau oder vorbuchen: www.skulptur-projektebybike.de









