Gastkommentar: Europa – es ist fünf vor zwölf!

Seit zwanzig Jahren verliert Europa nun schon den Anschluss an die erfolgreichen Industrienationen – der Absturz ist massiv: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf liegt 30 Prozent unter den USA und 50 Prozent unter der Schweiz. Das Versprechen eines Kontinents, der vor Krieg schützt, ist zerbrochen.
Der europäische Einfluss ist überall auf dem Rückzug. Unsere Gesellschaften sind gespalten, symbolisiert durch dysfunktionale Koalitionen wie in Deutschland, Populisten an der Macht in Holland oder Italien, irrationale Entscheidungen in England oder Zerfall von Parteien in Frankreich. Entsetzt von der Aussicht einer Trump-Präsidentschaft erkennt Europa, dass es nicht fähig ist, sich allein zu verteidigen.
Europa ist nicht in der Lage, große Räder zu drehen und die Welt von morgen mitzugestalten
Bei den Technologien sieht es ebenso düster aus angesichts von Unternehmen wie dem US-amerikanischen Mikroelektronik-Riesen Nvidia, der mehr wert als der gesamte deutsche Aktienindex (Dax) ist, oder einer amerikanischen und chinesischen Dominanz im Weltraum sowie im Wettbewerb im Geschäftsfeld synthetische Biologie, bei Drohnen oder in der Künstlichen Intelligenz (KI).
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Die Europawahlen sind von entscheidender Bedeutung, weil dies der einzige Zeitpunkt ist, zu dem die Arbeits- und Handlungsweise der Europäischen Union (EU) hinterfragt und im besten Fall verbessert werden kann.
Europa versteht die Welt nicht mehr. Es ist zum Kontinent der strategischen Überraschung geworden, schockiert von der Pandemie, erstaunt vom Aufstieg Chinas, überrumpelt von ChatGPT, wie gelähmt angesichts der Abhängigkeit von Gas und irritiert von dem amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) und seinen Konsequenzen für unsere Industrie.
Der Traum des Binnenmarkts, den es in keinem der großen Zukunftsfelder (KI, Batterien oder Raumfahrt) gibt, verhindert Größenwachstum auf den Kapitalmärkten, in der Gesundheits- und Energiebranche und in der Digitalwirtschaft. Wir sind nicht in der Lage, größere Räder zu drehen und die Welt von morgen mitzugestalten.
Das Fehlen strategischer Überlegungen in Europa ist verheerend
Unsere überholte Vorstellung von Wettbewerbspolitik vergisst, dass ein verstärkter Zugang zu Talenten und beschleunigtes Wachstum elementar sind – und nicht das Ausruhen auf aktuellen Marktanteilen. Unsere Besessenheit von Freihandel macht uns blind, auch Puffer für mögliche Niederlagen einzubauen. Und sie kann beschämende Rückschläge bringen wie bei den end- und heillosen Verhandlungen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsbündnis Mercosur.
Der viel zu abstrakt gedachte Green Deal verwandelt sich in einen Deindustrialisierungsplan Europas und mit Seltene-Erden-Importen aus China für Offshore-Wind, Solar oder Elektroautos. Das Fehlen strategischer Überlegungen ist verheerend. Die daraus entstehenden Folgen für Industrie und Jobs sind dramatisch und sorgen dafür, dass viele Bürgerinnen und Bürger die europäische Umwelt- und Agrarpolitik ablehnen.
Die Bürokratisierung aller Politikbereiche führt zum Gießkannenprinzip, zur Bevorzugung von Prozessen gegenüber den Ergebnissen und zur Verschwendung öffentlicher Gelder. Die Europäer haben nicht begriffen, dass Geschwindigkeit bei der Umsetzung genauso wichtig ist wie die Bereitstellung von finanziellen Mitteln.
Politische Glaubwürdigkeit wird allerdings zerbrochen, wenn nur ein Teil der für die Ukraine versprochenen Munition produziert wird oder nur ein Viertel der 750 Milliarden Euro, die vor vier Jahren für Corona mobilisiert wurden, tatsächlich investiert worden ist. Es ist fünf vor zwölf. Und die Europawahlen sind von enormer Bedeutung. Ich gehe davon aus, dass die EU – wie wir sie kennen – nicht mehr lange existieren wird, wenn wir sie nicht radikal verändern.
Wir haben einen Trumpf in der Hand: die Stärke der Demokratie. Die „Konsensmaschine“ ist zwar ins Stocken geraten, kann aber in der aktuellen und sehr komplexen Zeit entscheidend sein, da die Vielfalt der europäischen Perspektiven eine Stärke gegenüber den starren Ideologien autoritärer Länder ist.






Und: Noch ist Zeit, dass auch die Frauen und Männer, die wir durch unser Votum ins Parlament schicken werden, ebenfalls anders sind und den Schneid haben, wirklich etwas zu verändern – und zwar mit Taten und nicht mit großen Reden. Wir dürfen diese letzte Chance, Europa zu retten, nicht verpassen. Deswegen lassen Sie uns alle wählen gehen.
Der Autor: André Loesekrug-Pietri ist Vorsitzender und wissenschaftlicher Direktor der Joint European Disruptive Initiative (JEDI), der Europäischen Initiative für Sprunginnovationen.
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