Kolumne „Out of the box“: Wie behält man Kontrolle in einer Welt, die außer Kontrolle geraten ist?

Frank Dopheide ist Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung Human Unlimited, die sich auf das Thema „Purpose“ spezialisiert hat. Zuvor war er unter anderem Sprecher der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group und Chairman von Grey Worldwide.
Die Hierarchie hat sich für die Entwicklung der Menschheit Verdienste erworben.
Als das Leben und die Gemeinschaften groß und unübersichtlich wurden, brachte sie Struktur und Führung in die Welt. Im Tausch gegen das Versprechen von Schutz und Sicherheit wurde Entscheidungsgewalt abgegeben. Alle Macht dem Mächtigen. Ein Entscheider, der im Falle von Überfällen, Katastrophen und Krisen schnell und effektiv reagieren kann, zum Wohle aller.
Das Prinzip von Herrschaft und Gefolgschaft sorgt seither für Ordnung in unserem Leben. Es wurde nahtlos auf die sich entwickelnde Industriegesellschaft übertragen. Die Spitze weiß und entscheidet alles. Die Verantwortlichkeiten, die Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse werden von dort aus klar definiert und verteilt. Der Laden läuft und wird zur gut geölten Effizienzmaschine.
Doch nun kommen die Krisen und die Zeit, das Versprechen einzulösen.
Eine Figur an der Spitze, die allen sagt, was zu tun ist, und die Probleme mit Klugheit, Mut und Charisma aus der Welt schafft. Die Chefetage fühlt sich zum Retter berufen und handelt nach althergebrachtem Muster: Sie reißt alle Entscheidungen an sich. „Ich kam, sah und kürzte Budgets." Menschlich verständlich, aber organisatorisch ein Schritt zurück in die Zeit vor unserer Zeit. Hierarchische Führung ist kein Modell der Zukunft.
Die Welt ist zu schnell geworden.
Das Geschäftsleben ist zu rasant, zu volatil, zu kompliziert für Organigramme. Ehe Vorstand und Aufsichtsrat einen Termin abgestimmt haben, hat sich die Erde schon mehrere Male um sich selbst gedreht und ist eine andere geworden.
Der Informationsstrom ist endlos.
Er rast mit einhundert Megabit pro Sekunde um den Erdball und in die Unternehmensrechner. Unaufhörlich. Vierundzwanzig Stunden. Jeden Tag. Bis diese Inhalte vorstandsgerecht aufbereitet, weitergeleitet und verarbeitet sind, hat der Kunde sich schon für den Wettbewerber entschieden.
Das Geschäftsmodell von morgen
Alles ist hyperkomplex und vielschichtig.
Täglich kommen Millionen neuer Datenpunkte hinzu, die dann zu Kohorten aggregiert werden, aus denen dann Informationen destilliert werden. In diesem uferlosen Zahlenmeer geht jedoch etwas Entscheidendes unter: das menschliche Gespür – die Intuition für Kunden, Menschen und Märkte.
Die Arbeitswelt ist schon auf Zukunft programmiert.
Digitale Technologie hat Raum und Zeit aufgelöst. Die Vorstandsetage ist besetzt, aber sonst ist niemand mehr im Büro. Vernetzung und Dezentralisierung ist das Arbeitsmodell zeitgemäßer Zusammenarbeit.
Alle sind mit allen verbunden, mit Flatrate und 5G. Der Mitarbeiter richtet sich nach dem Kalender des Chefs. Doch das Internet wartet nicht, bis der Vorstand zu einer Entscheidung gefunden hat.
Wir betreten das Zeitalter der Transformation.
Jedes Unternehmen muss sich neu erfinden. Kreativität und Innovation sind die Treiber der Zukunft. Der Zufall und das Unerwartete sind seine Mitarbeiter.
Was aber kommt danach?
Nach hierarchisch kommt biologisch. Führung auf lebendige Art.
Die Ameisen zeigen uns, wie es geht. Es gibt eine Königin, viele Tausend Arbeiterinnen und Kriegerinnen. Eine zentrale Kontrollstation gibt es nicht, auch keine Bereichsleitung für Essensbeschaffung, Brutpflege und Verteidigung. Selbstorganisation ist das Wort der Zukunft. Keine Ameise, die im Montagsmeeting Aufgaben verteilt.
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Doch jede Ameise weiß, was sie zu tun hat, und erledigt ihre Aufgabe mit Fleiß. Erfahrung spielt eine Rolle – je jünger die Ameise, desto eher arbeitet sie im Nest. Je älter, desto mehr Risiko geht sie ein. Die Explorerin geht früh auf Futtersuche und rekrutiert Trägerinnen für den Transport. Ein neuer Nestplatz ist echte Überzeugungsarbeit. Die Entdeckerin überzeugt eine zweite, die beiden zwei weitere und so weiter. Die Intelligenz der vielen. Ist der neue Standort nicht überzeugend, verläuft der Vorschlag im Sande – weil es an Unterstützerinnen mangelt.
Jede Ameise leistet ihren Beitrag für die Gesamtorganisation, sie wählt und definiert ihre Rolle und Aufgabe selbst. Die Entscheidungen werden auf viele Schultern und die Expertinnen vor Ort verteilt. Die Königin sorgt für Wachstum.
Unvorstellbar? Aber auch unser Körper hat keinen CEO. Das Gehirn kann der Lunge nicht befehlen, das Atmen einzustellen. Wie funktioniert das? Es gibt ein übergeordnetes Interesse, dem sich alle verpflichtet fühlen. Spezialisten, von denen jeder weiß, welchen Beitrag er zum Großen und Ganzen leistet. Eigenverantwortlichkeit im täglichen Agieren. Klingt verrückt, ist aber ganz natürlich.
Mehr: Kolumne „Out of the box“ – Hundert Prozent aller Kunden sind Menschen.





