Kommentar – Der Chefökonom: Eine Volkswirtschaft in Teilzeit

Die Anreize für Mehrarbeit in Teilzeit sollten verstärkt werden, fordert Bert Rürup.
Vor fast 40 Jahren diente der Kampf für kürzere Arbeitszeiten vor allem einem Ziel: Ein befürchteter kräftiger Arbeitsplatzabbau sollte verhindert werden. Die Gewerkschaften der Metall- und Druckindustrie forderten daher die 35-Stunden-Woche.
Angesichts der damals hohen Produktivitätsfortschritte als Folge von Rationalisierungsmaßnahmen sollte das verbleibende Arbeitsvolumen auf möglichst viele Beschäftigte umverteilt werden. Nach heftigen Auseinandersetzungen stimmten die Arbeitgeber einer merklich kürzeren Wochenarbeitszeit zu.
Während die tariflichen Wochenarbeitszeiten in den zurückliegenden Dekaden weitgehend unverändert blieben, nahm die effektive Arbeitszeit stetig ab. So ging die reguläre Wochenarbeitszeit zwischen 1991 und 2021 von 38,4 Stunden um 3,7 Stunden zurück – nahezu um zehn Prozent.
Weit bedeutender als die Abnahme der durchschnittlichen Arbeitszeit je Vollzeitbeschäftigten war die markante Zunahme der Teilzeitbeschäftigung, von 14 Prozent im Jahr 1991 auf 29 Prozent 2021. „40 Stunden? Nein danke“, titelte die „SZ“ am vergangenen Wochenende durchaus treffend.
Eine Vorahnung dieser Entwicklung hatte im Jahr 1930, also mitten in der Weltwirtschaftskrise, der Jahrhundertökonom John Maynard Keynes. Er war der festen – aber im Nachhinein irrigen – Überzeugung, dass die Menschheit dank gewaltiger Produktivitätsfortschritte von den wirtschaftlichen Zwängen und Sorgen befreit sein werde. Im 21. Jahrhundert werde niemand mehr als drei Stunden pro Tag oder 15 Stunden in der Woche arbeiten müssen, um sich seine Wünsche erfüllen zu können, lautete seine Prognose.





