Kommentar: Mächtig wie nie – die US-Wahlen 2024 werden von der Justiz entschieden


Es gibt nur eine Instanz, die die US-Präsidentschaftswahlen mehr beeinflussen wird als die Stimmen der Wähler: die amerikanische Justiz. Die Zukunft der USA hängt zu großen Teilen davon ab, welche Entscheidungen der Oberste Gerichtshof, Bundesrichter, Staatsanwaltschaften und Grand Jurys bis zum Wahltag am 5. November treffen werden.
Das ist eine beunruhigende Tendenz. Zwar kann sich die mächtigste Nation der Welt eine starke Justiz nur wünschen. Doch allein die Zahl der zu verhandelnden Fälle ist erdrückend, sie werden zwangsläufig den Wahlkampf dominieren – und die Grenzen zwischen Rechtsprechung und Politik noch mehr verwischen.
Das hohe Gut der Gewaltenteilung mag auf dem Papier erhalten sein, in der öffentlichen Wahrnehmung aber ist sie immer schwerer vermittelbar.
Da wären zum einen die vier, vielleicht bald fünf Strafverfahren gegen Donald Trump, unter anderem wegen des Vorwurfs der Wahlbeeinflussung, plus zwei Zivilprozesse. Hinzu kommen die jüngsten Anstrengungen in mehreren Bundesstaaten, Trumps Kandidatur zu verhindern – ein Streit, der ultimativ vor dem Supreme Court ausgefochten werden dürfte.
Auch Amtsträger Joe Biden ist nicht frei von Problemen, auch wenn diese gegenüber denen von Trump verblassen: Sein Sohn Hunter ist wegen illegalen Waffenbesitzes und mutmaßlicher Steuerhinterziehung in Millionenhöhe angeklagt. Für Biden, der so oft auf moralische Integrität pocht, bedeutet der Fokus auf seinen Sohn eine Angriffsfläche in einer Zeit, in der seine Zustimmungswerte sowieso schon im Keller sind.
Bis zum Wahltag kann alles passieren
Für sich genommen hat jeder einzelne Fall seine Berechtigung. Das gilt auch für die umstrittenen Entscheidungen in Maine und Colorado, Trumps Namen vom Stimmzettel zu streichen. Behörden und Gerichte argumentieren, Trump habe sich wegen seiner Anstiftung zum Aufstand vom 6. Januar 2021 für das höchste Amt disqualifiziert.
Vermutlich wird der Supreme Court den Bann aufheben, doch zumindest haben die beiden Staaten ein überfälliges Zeichen gesetzt – ein Zeichen, zu dem der US-Kongress nicht in der Lage war, dank der Hörigkeit der Republikaner. Trump rettete sich während seiner Amtszeit durch zwei Impeachments und musste selbst dann keine Konsequenzen fürchten, als er seine Anhänger zum Sturm auf das Kapitol anstachelte.
Was Trumps Strafverfahren angeht, die parallel laufen, kann alles passieren. Trump, der wahrscheinliche Kandidat der Republikaner, könnte am Wahltag ein verurteilter Verbrecher sein oder sogar im Gefängnis sitzen. Oder aber Trumps Anwälte zögern die Prozesse hinaus, er wird zum Präsidenten gewählt und genießt im Amt Immunität.
Allein, dass solche Szenarien ernsthaft diskutiert werden, führt vor Augen, wie sehr sich die Maßstäbe verschoben haben: Trump wird, Wahlausgang hin oder her, als erster angeklagter Präsidentschaftsbewerber in die Geschichte eingehen. Und zwei der Anklagen gegen Trump werden vom – formal unabhängigen – Justizministerium des Amtsinhabers Joe Biden geleitet. Was klingt wie ein schräges Drehbuch, ist in den USA Realität.
Die wichtigste Rolle kommt zweifelsohne dem Supreme Court zu, dem mächtigsten Gericht der Welt. Zur Jahrtausendwende entschied es schon einmal über die Präsidentschaft, als es George W. Bushs Sieg gegen Al Gore sicherte. Dieses Mal geht der Einfluss noch viel weiter, weil das Oberste Gericht faktisch in den Wahlkampf eingreifen kann. Ganz akut deshalb, weil es mit einem Urteil in der Stimmzettelfrage Trumps politisches Schicksal besiegeln könnte, in die eine oder in die andere Richtung.
Damit verbunden ist die Möglichkeit, dass sich der Supreme Court erstmals zu den politisch heikelsten Fragen positionieren könnte: War der Sturm auf das Kapitol ein Putsch – und Trump der Anführer? Kann er überhaupt zur Verantwortung gezogen werden, wenn er doch als abgewählter, aber noch amtierender Präsident Immunität genoss? Wie sich der Supreme Court dazu verhält, kann eine Kettenreaktion auslösen und Trumps Strafverfahren beeinflussen.
Bahnbrechende Urteile stehen an
Politik machte das Oberste Gericht immer wieder: So trug der Protest gegen das gekippte Abtreibungsrecht zum Erfolg der Demokraten bei den letzten Kongresswahlen bei. Demnächst entscheidet der Supreme Court über ein mögliches Verbot der Abtreibungspille Mifepristone, über Regulierungen zum Waffenrecht und zum Umweltschutz. All diese Themen haben Auswirkungen auf die Wählerstimmung.


In einer idealen Welt würde die zentrale Rolle der US-Justiz zu mehr Orientierung und verbindlichen Urteilen führen. Zum Beispiel könnte im Gerichtssaal ein für alle Mal geklärt werden, ob ein Demokratiefeind wie Trump im Weißen Haus sitzen darf.
Leider ist ein anderes Szenario wahrscheinlicher: Die Strafverfahren gegen Trump dürften sich lange hinziehen, und der Supreme Court steckt nach mehreren Ethikskandalen selbst in einer massiven Glaubwürdigkeitskrise. Die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft und die Politikverdrossenheit vieler US-Bürger dürfte dieser „Justiz-Präsidentschaftswahlkampf“ nicht umkehren.
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