Kommentar: Warum sich Ostdeutsche zu Unrecht als Bürger zweiter Klasse sehen


Geradezu krampfhaft wird nach sozialen Dimensionen gesucht, in denen die Ostdeutschen noch immer benachteiligt seien.
Die deutsche Einheit war ein großer Erfolg – insbesondere für die Ostdeutschen. Statt in einem abgewirtschafteten kommunistischen Unterdrückungsregime leben sie nun in einem Staat, der auf weltweit nahezu einmalige Weise Wohlstand mit Freiheit verbindet, Aufstiegschancen nach oben mit sozialer Absicherung nach unten. Dieser Staat, das ist die Bundesrepublik von heute.
Zum 33. Jahrestag der deutschen Einheit wirken diese Zeilen seltsam provokant – dabei ist nichts an ihnen falsch. Besonders eindrucksvoll lässt sich die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit an der Wirtschaftsleistung pro Kopf ablesen: 1991 betrug sie in den neuen Ländern (ohne Berlin) gerade mal 32 Prozent des Niveaus in Westdeutschland. Innerhalb von gut 30 Jahren hat der Osten kontinuierlich aufgeholt und lag 2022 bei 72 Prozent der westdeutschen Wirtschaftsleistung.
Der verbleibende Unterschied bewegt sich in einer Größenordnung, wie er sich ebenso innerhalb der alten Bundesländer finden lässt. Auch die bedrückende transformationsbedingte Massenarbeitslosigkeit der 90er-Jahre mit ihren Arbeitslosenquoten in Ostdeutschland von teilweise über 20 Prozent ist Vergangenheit.
Trotz dieses Erfolgs (bei vielen politischen Fehlern im Detail) haben wir uns angewöhnt, den deutschen Einigungsprozess vor allem von seinen Defiziten her zu betrachten. In einer repräsentativen Befragung im Auftrag des Kanzleramts sah 2022 lediglich eine überschaubare Mehrheit von 61 Prozent die deutsche Einheit „eher als Gewinn für die Menschen in Deutschland“, ein Wert, der sich in Ost und West kaum unterscheidet.
Zwei Jahre zuvor waren es noch zwei Drittel. Eine Sichtweise, die maßgeblich von der Bevölkerung in den neuen Bundesländern selbst befördert wird. Auf vielfältige Weise signalisiert sie dem Rest des Landes, dass sie sich seit 1990 eben nicht in der bestmöglichen aller Welten angekommen sieht. Umfragen belegen: Die Ostdeutschen sehen unser Gesellschaftssystem aus parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft im Schnitt wesentlich kritischer als die Menschen in den alten Bundesländern.
So gaben 52 Prozent der Menschen aus Ostdeutschland bei einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen 2022 an, sie seien „eher unzufrieden“ mit der Demokratie in Deutschland. Nur 31 Prozent der westdeutschen Menschen sind dieser Meinung. In derselben Umfrage stimmte eine Mehrheit von 53 Prozent der befragten Ostdeutschen der Aussage zu: „Die Ostdeutschen sind nach wie vor Bürger zweiter Klasse.“ Sichtbarstes Ventil dieser Unzufriedenheit dürften die hohen Umfragewerte für die AfD in den neuen Bundesländern sein.
Ein großer Teil der Ostdeutschen hat die DDR gar nicht mehr als Erwachsene erlebt
Wie sollten die Deutschen, die nun einmal zum überwiegenden Teil aus den alten Bundesländern kommen, mit der Unzufriedenheit der Ostdeutschen umgehen? Bislang überwiegt in der öffentlichen Debatte, was man provokant als „Opferdiskurs“ bezeichnen könnte: Immer wieder wird betont, man müsse Verständnis haben für die biografischen Verwundungen der Transformationsjahre, als Millionen von Ostdeutschen ihre Arbeitsplätze verloren und sich beruflich umorientieren mussten.
Gerne gefordert wird auch: Man müsse die „Lebensleistung“ der Menschen in der DDR stärker anerkennen, was immer das heißen soll. Dabei hat ein großer Teil der Ostdeutschen die DDR gar nicht mehr als Erwachsene erlebt.
Geradezu krampfhaft wird nach sozialen Dimensionen gesucht, in denen die Ostdeutschen noch immer benachteiligt seien. So etwa die Tatsachen, dass in Ostdeutschland kaum große Vermögen vererbt werden und die 12,5 Millionen Ostdeutschen in den Führungseliten des Landes unterrepräsentiert sind.
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Das ist alles richtig. Aber auch die allermeisten Westdeutschen erben kein großes Vermögen. Auch in Westdeutschland gibt es Regionen im Strukturwandel, in denen in den vergangenen Jahrzehnten Millionen von Menschen berufliche Brüche hinnehmen mussten. Und auch die 24 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind in den Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft nur selten zu finden. Ein Vergleich, mit dem man in Ostdeutschland übrigens zuverlässig Empörung auslösen kann – „Integriert doch erst mal uns!“, lautet der dazu passende programmatische Buchtitel der ostdeutschen SPD-Politikerin Petra Köpping.
Ostdeutsche Positionen zu verstehen bedeutet nicht automatisch, Verständnis zu haben
Aber wie? Es dürfte schwierig sein, mit staatlichem Handeln eine systemskeptische Mentalität aufzubrechen, die sich in vielen Milieus Ostdeutschlands verfestigt hat und die längst nicht mehr nur aus den Erfahrungen der DDR oder der Transformationskrise der 90er-Jahre herrührt.





Vielleicht hilft es, wenn wir als Gesamtgesellschaft aufhören, Ostdeutsche in der Haltung zu bestärken, ihnen sei 1990 irgendeine Art von Unrecht widerfahren. Das Gegenteil war damals der Fall. Auch in der Bundesrepublik von heute werden Ostdeutsche weder systematisch diskriminiert noch sind sie über Gebühr benachteiligt.
Gleichzeitig lohnt es sich zu verstehen, warum so viele Menschen in Ostdeutschland dies anders sehen, warum sie so kritisch auf unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem blicken und ihr Kreuz so häufig bei der AfD machen. Ein breites Betätigungsfeld für Soziologen und Sozialpsychologen. Aber „verstehen“ ist nicht in jedem Fall gleichbedeutend mit „Verständnis haben“.
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