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Morning Briefing PlusDas neue Land der Freien? Der wundersame Triumph der angeschlagenen EU

Eben noch als Sanierungsfall abgeschrieben, gilt Europa plötzlich als letzte Bastion der Freiheit. Brüsseler Berechenbarkeit ist das Gegenmodell zur Willkür aus Washington.Moritz Koch 19.04.2025 - 08:44 Uhr
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Handelsblatt-Politikchef Moritz Koch. Foto: Handelsblatt

Liebe Leserinnen und Leser,

herzlich willkommen zu unserem Blick auf die wichtigsten Themen der Woche. Lassen Sie uns heute mit einem Gedanken beginnen, der noch etwas weiter zurückreicht.

Anfang Januar erschien in der US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ ein Essay, der den „seltsamen Triumph eines kaputten Amerikas“ beschrieb. Der US-Politologe Michael Beckley versuchte darin, das „Paradoxon amerikanischer Macht“ zu ergründen: Wie kann ein Land, das ideologisch tief gespalten und von großer politischer Unzufriedenheit geprägt ist, ökonomisch so erfolgreich sein?

100 Tage später hat sich Amerikas seltsamer Triumph in ein verstörendes Desaster verkehrt. Seit Präsident Donald Trump einen globalen Handelskrieg entfesselt hat, taumelt die eben noch unverwüstlich erscheinende US-Wirtschaft einer Rezession entgegen.

Heute müsste man einen neuen Essay schreiben – und zwar über den wundersamen Triumph eines angeschlagenen Europas. Eben noch als Freizeitpark und Industriemuseum abgeschrieben, gilt die EU auf einmal als letzte Bastion liberaler Werte, steht Europa als neues Land der Freien da.

Zollkrieger: US-Präsident Donald Trump und Howard Lutnick stellen Anfang April die neuen Zölle vor. Foto: AFP

Aufgabe ist es jetzt, das „Paradoxon europäischer Macht“ zu ergründen: Wie kann ein Staatengebilde, das einen dramatischen Verlust an wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit verzeichnet, politisch so attraktiv sein?

Friedrich Merz, Deutschlands künftiger Bundeskanzler, ruft im Handelsblatt „die Stunde der Europäischen Union“ aus. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen skizziert in der „Zeit“ den europäischen Traum – in scharfer Abgrenzung zu den USA: „Wir haben keine Bros und keine Oligarchen.“

Tatsächlich hat Europa Stärken, die in den vergangenen, durch den Ukrainekrieg, die Energiekrise, von Migrationslasten und Deindustrialisierungsängsten geprägten Jahren aus dem Blick geraten sind. Ein gutes Leben, in Freiheit und Sicherheit: Dieses Versprechen an ihre Bürger lösten die meisten europäischen Staaten schon vor Trumps Rückkehr an die Macht besser ein als die USA.

Europäer leben länger, sind gesünder. Eine Not-OP ist in Europa kein Armutsrisiko. Metalldetektoren stehen an Flughäfen, nicht vor Schulgebäuden.

Inmitten der allgemeinen Krisenstimmung keimt eine neue Europabegeisterung auf. 74 Prozent der befragten Europäer gaben im März in einer Eurobarometer-Umfrage an, dass ihr Land von der Mitgliedschaft in der EU profitiert. Nie waren es mehr. Und nach Trumps Handelskriegserklärung am 2. April, dem vermeintlichen „Liberation Day“, dürften die Werte noch weiter gestiegen sein.

Die EU steht für alles, was Trump infrage stellt – Freihandel, Friedfertigkeit, Rechtstreue –, und wird damit unweigerlich zum Antipol des neuen Amerikas. Kein Wunder, dass Trump die EU als „Gegner“ gebrandmarkt hat. Brüsseler Berechenbarkeit ist das Gegenmodell zur Willkür aus Washington.

Doch so, wie Amerika der Spannung zwischen politischem Verfall und wirtschaftlicher Dynamik nicht dauerhaft standhalten konnte, droht auch Europa an seinen Widersprüchen zu scheitern. Eine schwache Wirtschaft kann keine starke politische Gemeinschaft tragen.

Europa braucht Innovationsfreude und Unternehmertum, mehr Freihandelsabkommen und weniger Berichtspflichten. Wenn die EU Amerika als Land der Freien beerben will, muss sie damit beginnen, die europäische Wirtschaft von ihren Fesseln zu befreien.

Was uns diese Woche noch beschäftigt hat:

1. Vom Taurus nichts Neues – oder nun doch? Friedrich Merz hat jüngst bekräftigt, als Kanzler den Marschflugkörper an die Ukraine liefern zu wollen. Moskau reagiert mit scharfen Drohungen, und aus der SPD kommt Kritik am künftigen Koalitionspartner. Die Frage ist nun: Kehrt mit dem Taurus-Streit auch die Debattenkultur der Ampel zurück?

2. Armin Papperger, Chef des Rüstungskonzerns Rheinmetall, hält von der Dauerkontroverse um den Taurus wenig. Mit dem Marschflugkörper „verändert man im Krieg nichts“, sagt er meinen Kollegen Roman Tyborski, Alexander Voß und Martin Knobbe. „Der Gamechanger ist klassische Artilleriemunition. Nur damit kann die Ukraine den Russen auf Distanz halten.“ Diese Einschätzung teilen auch Militärexperten, wobei im Fall des Rheinmetallchefs auch nicht-militärische Erwägungen eine Rolle spielen dürften: Rheinmetall ist einer der größten Hersteller von Artilleriemunition weltweit.

3. Das Projekt „Uranos KI“ ist das derzeit wohl wichtigste Verteidigungsprojekt. Die Bundeswehr hat ein Ausschreibungsverfahren für Unternehmen gestartet, um mittels KI-gestützten-Waffensystemen – Drohnen, Radaren, Kameras – die Nato-Ostflanke zu sichern. Welche Unternehmen zu den Bewerbern zählen, warum das Projekt so wichtig ist, lesen Sie in unserem exklusiven Bericht.

Die Bundeswehr plant zur Überwachung der Nato-Ostgrenze ein großes KI-Projekt. Foto: Getty Images/Anton Petrus

4. 39 Milliarden Euro – so viel wollen die Dax-Konzerne ausgeben, um eigene Aktien an der Börse aufzukaufen. Das hat unser Börsenexperte Ulf Sommer für Sie recherchiert. Die Rückkäufe kommen in einer Zeit, in der Trumps Zölle die Unternehmen bedrohen. Warum Mercedes, SAP, DHL und andere jetzt Aktien zurückkaufen und ob die Konzerne sich dem „Sog der Wall Street“ entziehen können, lesen sie hier.

5. Bill Anderson ist gebürtiger Amerikaner. Aus seiner Heimat erreichen den Bayer-CEO derzeit einige Hiobsbotschaften. Wobei  Trumps Wirtschaftsvandalismus an dieser Stelle nicht gemeint ist. Vielmehr geht es um die Glyphosat-Klagen, durch die Bayer „viel Geld verliert“ und aufgrund derer Anderson nicht ausschließt, die Produktion des Unkrautvernichters einzustellen. Lesen Sie hier das Interview, das meine Kollegen Theresa Rauffmann und Bert Fröndhoff geführt haben.

Bayer-Chef Bill Anderson: Ab 2026 soll es bei Bayer wieder aufwärtsgehen, verspricht der Chef des Dax-Konzerns. Foto: Bloomberg/Getty Images

6. China verfügt über ein gewaltiges Druckmittel im Handelskrieg mit den USA. Bei seltenen Erden hat die Volksrepublik ein Quasimonopol. Unsere Reporter in Peking, Brüssel und Frankfurt sind der Frage nachgegangen, wie stark die europäische Wirtschaft von der Konfrontation zwischen Amerika und China in Mitleidenschaft genommen wird. So viel sei verraten: Ein deutscher Unternehmer berichtete meinen Kollegen, dass er im März bei einem chinesischen Lieferanten bestellt und bezahlt habe, aber: „Trotz Vertrag und Zahlung wird die Ware nicht geliefert.“

7. Über eine andere Abhängigkeit berichtet Elisabeth Atzler aus unserem Frankfurter Büro. Es geht um US-Zahlungsdienstleister wie Visa, Mastercard und Paypal, die viele von uns täglich nutzen. EZB-Chefin Christine Lagarde setzt das Thema jetzt auf die Agenda. Europa brauche mehr als je zuvor den digitalen Euro. Doch sie weiß auch: Ein digitaler Euro löst keine akuten Probleme, denn er wird erst in drei bis vier Jahren einsatzbereit sein. Was kurzfristig helfen könnte.

Christine Lagarde: Die EZB-Präsidentin betrachtet die große Abhängigkeit von US-Finanzkonzernen im Zahlungsverkehr als Schwachstelle Europas. Foto: Reuters (2), Imago [M]

8. Donald Trump droht, die US-Eliteuniversität Harvard als „politische Organisation“ einzustufen, ihr Milliarden steuerlicher Privilegien zu entziehen. Die wohl bekannteste Universität der Welt, so Trump, toleriere Antisemitismus auf dem Campus, vermittle Ideologie statt Wissen, etwa in Form von „Gender Studies“ (Geschlechterforschung). Harvard zeigt sich indessen wehrhaft. Doch hat die Freiheit der Lehre gegen Trump eine Chance?

9. Immer mehr Superreiche in den USA richten unterirdische Luxusbunker ein. Das Vorsorgen („Prepping“) für den vermeintlichen Ernstfall, für etwaige Krisen, Krieg, Katastrophen ist ein Milliardengeschäft. Der wohl berühmteste Prepper der Welt, Meta-Chef Mark Zuckerberg, hat sich auf Hawaii schon einen Mega-Bunker gebuddelt. Unser US-Korrespondent Felix Holtermann blickte für unseren Freitagstitel exklusiv hinter die Fassade der verschlossenen Szene und beschreibt einen Lebensstil, der von Angst und Technologiegläubigkeit durchzogen ist.

Luxusbunker (Illustration): Die Angst vor der Apokalypse und das Versprechen, unbeschadet aus ihr hervorzugehen, ist ein Milliardenmarkt. Foto: Illustration: Thomas Kuhlenbeck

10. Abschließend noch einmal zurück nach Berlin. Die geschäftsführende rot-grüne Bundesregierung verhindert die Lieferung von Kampfjets des Typs Eurofighter in die Türkei. Als wichtiger Grund wird in deutschen Regierungskreisen die Verhaftung des türkischen Oppositionsführers Ekrem Imamoğlu genannt. Die exklusive Recherche lesen Sie hier.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Osterwochenende.

Verwandte Themen Donald Trump Europa USA Bayer Bill Anderson Christine Lagarde

Herzlichst,

Ihr Moritz Koch

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